Chile Erdbeben

Ein Riss und ein Ruck - NZZ 25. März 2010
Chile gilt als Erfolgsmodell für Lateinamerika: Das Land hat sich seiner diktatorischen Vergangenheit gestellt und ist dank stabilen politischen Verhältnissen und einer liberalisierten Wirtschaft zu Wohlstand gelangt. Stellt das Erdbeben das Erreichte in Frage? – Ein Gespräch mit der Schriftstellerin Carla Guelfenbein.

Interview: Brigitte Kramer

Seit dem starken Beben ist rund ein Monat vergangen. Wie sieht die Lage in Chile heute aus?

Es sind mehrere Dinge zu spüren. Zunächst gibt es einen Riss, der durch die Gesellschaft geht, besser gesagt, der Riss, den es bereits gab, ist grösser geworden. Wir Chilenen hatten vergessen, dass wir noch immer in einer Gesellschaft der Ungleichen leben, in der Armut und Reichtum in extremer Form nebeneinander existieren. In diesem Sinn sind wir immer noch ein unterentwickeltes Land.

Hat das Beben die Chilenen grundlegend in ihrem Selbstbewusstsein getroffen?

So würde ich das nicht sagen. Es ist ja nicht unsere Schuld, dass unter uns alle zwanzig Jahre die Erde bebt. Wir wachsen alle mit Erdstössen auf, das ist für uns normal. Die Ausländer in Chile sterben jedes Mal fast vor Angst, wir behalten die Ruhe und stellen uns unter die Eingangstür, wie uns dies die Eltern beigebracht haben. Bei diesem Beben war es sogar so, dass die meisten Chilenen zwei Minuten lang nichts gemacht haben. Erst zehn Sekunden später bemerkten sie, dass es diesmal stärker war. Erdbeben sind Teil unserer Kultur, und wir sorgen vor. Nicht nur beim Strassen- und Häuserbau, auch bei den Rettungsdiensten. Erdbeben haben uns als Individuen geprägt.

Aber ein Einschnitt war es schon?

Ja, so kann man das sagen. Was uns vor allem erschütterte, war – nach der Tragödie der Zerstörung – die Art, wie sich viele Menschen in den betroffenen Provinzen verhalten haben. Die Bilder von gutgekleideten Leuten, welche zerstörte Elektronikgeschäfte oder Supermärkte plünderten, machen uns zu schaffen. Wir fragen uns: In welchem Land leben wir eigentlich? Wenn eine mittellose Mutter einen Karton Milch aus einem Laden stiehlt, dann ist das zwar nicht richtig, aber verständlich. Sie tut das aus reiner Bedürftigkeit, wie dies auch unsere ehemalige Präsidentin, Michelle Bachelet, gesagt hat. Aber warum klaut ein Bürger der Mittelschicht, dem es an nichts fehlt und der noch nie gegen das Gesetz verstossen hat, plötzlich einen Plasmafernseher? Das Erdbeben setzte eine Spirale der Enthemmung und Sinnlosigkeit in Gang. Es setzte teilweise eine destruktive Gruppendynamik in Gang, deren Euphorie man richtiggehend spüren konnte! Die Bilder plündernder Horden haben uns geschockt.

War damit nicht zu rechnen?

Nein, so etwas kannten wir nicht. Chile hat keine hohe Kriminalitätsrate, es gibt kein organisiertes Verbrechen, die Menschen fühlen sich sicher hier. Und Chile war sehr stolz auf das, was es in den vergangenen zwanzig Jahren geleistet und geschaffen hatte: eine gefestigte Demokratie, ein stabiles, progressives Wertesystem, Fortschritte im Verkehrsbereich, in der Technologie, in der Kommunikation. Die globale Finanzkrise hat Chiles Wirtschaft verhältnismässig schwach getroffen. Doch dann fiel vor ein paar Tagen, während eines Nachbebens, im ganzen Land der Strom aus. Für Stunden. Stellen Sie sich das vor: das ganze Land in absoluter Dunkelheit! Da haben wir bemerkt, wie verletzlich wir immer noch sind.

Welche Folgerungen sind daraus zu ziehen?

Sagen wir: Das Erdbeben hat uns zu denken gegeben. Es hat uns aus dem Gleichgewicht gebracht. Es hat an unseren Werten gerüttelt, ohne diese freilich umstossen zu können. Es hat uns darüber hinaus die Einsicht geschenkt, dass der Staat nicht alles regeln kann. Seit dem Ende der Diktatur hatten wir uns in eine Gesellschaft von Individualisten verwandelt. Jeder war ein Einzelkämpfer. Wir sassen alleine zu Hause und sparten auf den nächsten Fernseher oder das neue iPod-Modell. Doch dann hat das Rumoren der Erde eine Welle der Solidarität ausgelöst, wie wir sie lange nicht gekannt haben. Ich spreche nicht von anonymer, institutionalisierter Spenden-Solidarität. Nein, ich meine die tatkräftige Hilfe von Menschen für Menschen. Tausende von Chilenen sind in die zerstörten Regionen gefahren, mit vollgeladenen Autos, um zu helfen, mit eigenen Händen.

Das ist die gute Seite eines Unglücks.

So ist es. Wir haben wieder unsere Wurzeln gespürt, wir haben uns wieder als Menschen gefühlt, als Teil der Menschheit. Wir haben verstanden, dass wir einander brauchen.

Wird das Beben als Zäsur in die Geschichte Chiles eingehen?

Gewiss als grosse Tragödie. Doch wir haben keinen historischen Moment erlebt, die Paradigmen haben sich nicht verschoben. Das Beben hat keine politischen Folgen, wie sie 1973 der Staatsstreich von Pinochet hatte. Dieser war ohne Zweifel das wichtigste Ereignis für Chile im 20. Jahrhundert.

Der neue Staatspräsident, Sebastián Piñera, wurde während eines Nachbebens, am 11. März, vereidigt. Sehen Sie darin etwas Symbolhaftes?

Das war ein Paradox, ein Zufall. Ich hege Piñera gegenüber viele Vorurteile, aber ich habe beschlossen, ihm einen Vertrauensvorschuss zu gewähren. Obwohl er es uns Kritikern schwermacht, denn der erste Skandal ist schon da. Piñera ist ja einer der reichsten Männer des Landes, er besitzt in vielen wichtigen Unternehmen Aktien. Nun hat er, trotz seinen Wahlversprechen und entgegen seinem Programm, noch keine einzige seiner Aktien verkauft. Seit dem Amtsantritt sind deren Werte natürlich im Kurs gestiegen, um 300 Prozent und mehr. Stellen Sie sich das vor: Piñera hat nicht nur die Wahlen gewonnen, für ihn war der Sieg auch ein Riesengeschäft, und er wird stündlich reicher, auf unsere Kosten! Das ist absolut unmoralisch.

Löst seine Präsidentschaft Ängste bei Ihnen aus? Sebastián Piñera gehört dem rechten Lager an, viele seiner Mitarbeiter haben Verbindungen zum ehemaligen Kreis um Pinochet.

Piñeras demokratische Überzeugungen stelle ich nicht in Frage. Die grösste Sorge aller Chilenen besteht darin, dass das Militär die Macht wieder übernehmen könnte. Diese Gefahr besteht aber nicht, da bin ich sicher. Piñera ist Unternehmer wie die meisten seiner Regierungsmitglieder, und sie sind zudem Absolventen katholischer Universitäten. Viele haben sehr konservative Ansichten, aber nicht alle. Ich mache mir Sorgen um unsere Moral, um Werte wie Toleranz, Offenheit, Gleichberechtigung, die wir in zwanzig Jahren Mitte-Links-Allianz, der «Concertación», etabliert haben. Chile hat sich in diesen zwei Jahrzehnten enorm verändert. Nun befürchte ich einen Rückschritt, keinen wirtschaftlichen Rückschritt, sondern einen der Werte. Auch um die Kultur mache ich mir Sorgen. Chile hat ein dichtes Netz von Basiskultur entwickelt, es gibt in allen Provinzen und Dörfern Stipendien, Kurse, Bibliotheken und Kulturzentren. Ich hoffe, Piñera wird das nicht antasten. Es ist nötig, dass er versteht, dass man den Erfolg von Kultur nicht mit Münzen aufwiegen kann.

Gibt es konkrete Punkte in Sebastián Piñeras Regierungsprogramm, die Ihnen Sorge machen?

Wissen Sie, Piñera wird in den kommenden vier Jahren nicht viel Neues anstossen können. Er wird mit dem Wiederaufbau des Landes beschäftigt sein. Das wird er, als Unternehmer, der er ist, hoffentlich gut machen.

Wie sähe denn ein erfolgreicher Wiederaufbau aus?

Es soll am besten alles wieder so hergestellt werden, wie es vorher gewesen ist.

B. Kr. ⋅ Carla Guelfenbein (geb. 1959) ist eine der erfolgreichsten chilenischen Gegenwartsschriftstellerinnen. Bisher hat sie drei Romane veröffentlicht, die alle in den Bestsellerlisten ihres Landes auftauchten und in mehrere Sprachen übersetzt wurden. Zentrale Themen der Autorin sind Familie, Beziehungsgeflechte und Identitätsfindung vor politischem Hintergrund. So verarbeitete Guelfenbein in ihrem Erstling «Die Frau unseres Lebens» (dt. 2008) autobiografische Erfahrungen während ihres zehnjährigen Exils in London. Dort hat Guelfenbein Biologie und Design studiert. Mitte der achtziger Jahre, gegen Ende der Pinochet-Diktatur, kehrte sie in ihre Heimatstadt Santiago zurück und arbeitete dort als Designerin und Drehbuchautorin. Auf Deutsch erscheint im Mai bei S. Fischer der Roman «Der Rest ist Schweigen».

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