Elite und Kirche

Die Kirche hatte früher das Image über "die Köpfe" der Leute zu predigen und keinen Bezug zum Volk zu haben. Das scheint sich gewendet zu haben.


Die Eliten und die Kirche haben sich voneinander verabschiedet

Die Konzentration auf das Kleinbürgertum macht die Kirche für Verantwortungseliten wenig attraktiv. Zwei reformierte Zürcher Theologen beklagen sich darüber.

Von Michael Meier

«Die Welt der Führungsetagen und die Welt der Sonntagspredigt klaffen auseinander», sagt Ralph Kunz, Professor für praktische Theologie an der Universität Zürich. Der Wipkinger Gemeindepfarrer Roland Diethelm erinnert sich an eine Aussage der früheren Regierungsrätin Verena Diener, dass Verantwortungsträger, die mit einem grossen intellektuellen Anspruch umgehen müssen, von den Kirchen keine Antworten mehr bekommen und erwarten. «Die Eliten beziehen sich nicht auf die Kirche. Und die Kirche hat sich von ihnen verabschiedet.»
Beide Theologen sprechen von einer Tendenz zur Selbstverbürgerlichung der Kirche: Diese versteht sich als Volksund Familienkirche, die vom Kleinkind bis zur Oma alle abholt. Wenn die Predigt für alle verständlich sein muss, darf sie intellektuell nicht zu anspruchsvoll sein. Problematisch wird dieser Anspruch, wenn er jeden Sonntag flächendeckend in allen Gemeinden eingelöst wird. «Durch diese Konzentration kann der Eindruck entstehen, dass Religion nur etwas für kleine Kinder und alte Menschen sei», klagt Kunz. Der anspruchsvolle Gottesdienst mit intellektueller Predigt habe sich in Spezialgemeinden wie die im Gross- und im Fraumünster zurückgezogen.
Die Milieusklerose aufbrechen
Angesichts dieses Phänomens bekannte sich die Evangelische Kirche Deutschlands letztes Jahr in einem eigenen Dokument zu den «Evangelischen Verantwortungseliten». In der Zürcher Kirche peilt ein Reformprojekt sogenannte Profilgemeinden an, Bahnhofs-, Jugendoder Hochschulkirchen. Damit will man laut Diethelm, der als Synodaler in das Projekt involviert ist, die Milieusklerose der Kirche aufbrechen, deren Fokus auf das Kleinbürgertum und die Grosselterngeneration.
Ralph Kunz erinnert daran, dass noch im 19. Jahrhundert die Eliten im Escher-Wyss-Zürich die Reform der Kirche vorwärtsgetrieben hatte. «Der Prozess, dass die Kirche die Eliten wie auch die Arbeiterschaft verlieren, hat vor 150 Jahren eingesetzt.» Durch die Säkularisierung seien diese Schichten sukzessive entkirchlicht worden. Vorübergehend fühlten sich die Eliten am ehesten noch in der kirchlichen Erwachsenenbildung beheimatet. In den 60erJahren sind in Deutschland, aber auch in der Schweiz kirchliche Akademien entstanden, das Zentrum Boldern in Männedorf etwa oder die Stadtzürcher Paulus-Akademie, ebenso Spezialpfarrämter wie die Ehe- und Beratungs- oder Wirtschaftspfarrämter.
«Das war der Versuch der Kirche, die intellektuellen Eliten wieder zu erreichen», sagt Kunz. Währen 20, 30 Jahren sei das auch mehr oder weniger gelungen. «Mit der Ökonomisierung der Gesellschaft, dem aufkommenden Neoliberalismus von Reagan und Thatcher indessen fing diese Dialogkultur in den 80er- und 90er-Jahren zu bröckeln an.» Die neoliberale Elite habe die Akademien mit ihrer gesellschaftskritischen Diktion in die linke Ecke abgedrängt und marginalisiert. Aber auch innerhalb des linken Flügels sei es zu einer starken Distanzierung von der Kirche gekommen. Viele emanzipative Bewegungen hätten sich im Zuge der 68erJahre von den Kirchen abgesetzt. «Für die SP war die Kirche zu fromm, für die SVP zu links», so Kunz.
Nur eine Option unter vielen
Anders als in der 68er-Generation sind die Intellektuellen von heute laut Diethelm zwar kaum mehr kirchenfeindlichantiklerikal. Im Gegenteil, die Kirche und ihre Werte würden nicht selten als etwas Stabilisierendes empfunden. «Nur ist die Kirche auf dem Markt der Sinnstiftung und Transzendenz nicht mehr automatisch gesetzt, sondern eine Option unter vielen.» Längst sei ihr Anspruch, sowieso recht zu haben, mit dem sie einmal angetreten sei, hinfällig geworden.
Bildende Kunst, Architektur, Design lassen sich kaum mehr von der Kirche inspirieren. Vorbei auch die Zeiten der Aufklärung, wo sich die philosophische Elite von Voltaire bis Diderot an der Kirche erhitzte und rieb. Eine Figur wie Friedrich Nietzsche, der die Kirche existenziell herausforderte, findet man heute nicht mehr. Zeitgenössische Literaten und Philosophen sprechen zwar oft und gerne von der Rückkehr der Religion, doch damit ist gerade nicht die Kirche gemeint. Religion ist ohnehin nicht gleich Kirche. Selbst die Theologen, die sich zum Beispiel prominent in Ethikkommissionen äussern, gefallen sich laut Diethelm nicht selten darin, sich von ihrer Kirche abzugrenzen – die Katholiken von der Hierarchie, die Reformierten von der Dogmatik.
Für beide Theologen ist auch umgekehrt evident: Wollen die Kirchen Eliten ansprechen, müssen sie selber durch intellektuell attraktive Köpfe und Repräsentanten auf sich aufmerksam machen. Reformierte Pfarrerpersönlichkeiten, die wie Karl Barth und Leonhard Ragaz in die Gesellschaft ausstrahlten, sucht man heute vergeblich. Diethelm zufolge haben auf katholischer Seite vielleicht noch einzelne Jesuiten und Dominikaner einen intellektuellen Nimbus. Über die Ordensgemeinschaften oder Studienhäuser hätten es die Katholiken etwas einfacher, mit den Eliten in Kontakt zu bleiben.
Nicht selten aber sind Bischöfe Reizfiguren. Der populäre Abt Martin Werlen scheiterte bezeichnenderweise mit dem Versuch, die alte intellektuelle Gesprächsform der Disputation in Einsiedeln wieder zu etablieren.
In Synoden, Kirchenpflegen, Pfarreiräten sitzen nur noch selten gesellschaftliche Verantwortungsträger. Der Kantonsratspräsident im reformierten Zürcher Kirchenrat, Bernhard Egg, ist eine Ausnahme. Auch Verantwortungsträger in Kultur, Politik und Wirtschaft, die sich öffentlich zum Glauben bekennen, trifft man nur vereinzelt an, etwa Martin Täuber, den neuen Rektor der Uni Bern, oder den St. Galler Onkologen Hans-Jörg Senn. Bekennende Christen in der Politik wie etwa seinerzeit Lionel Jospin in Frankreich oder Heiner Geissler, Johannes Rau, die Weizsäckers oder heute Ursula von der Leyen in Deutschland kennt man in der Schweiz nicht. «Und wenn es sie gäbe, sind sie zu verschämt, um das öffentlich zu bekennen», so Diethelm. Für ihn wäre schon viel gewonnen, wenn im Konzert der öffentlichen Stimmen auch das Religiöse und Protestantische wieder eine solche hätte.
Das Mass von Gut und Böse
Wegen Angela Merkel und Joachim Gauck aber eine protestantische Leitkultur herbeizureden, wie das in Deutschland geschah, greift für Diethelm und Kunz zu kurz. Eine solche sei auch gar nicht wünschenswert. «Der Begriff kommt aus der Multikulti- und Islamdebatte und beschert der Gesellschaft nur das Problem, den hegemonialen Anspruch einer Kultur zu dekretieren.» Für Kunz ist das in der Postmoderne nicht statthaft. «Demokratie und Diskursfreiheit entsteht im Dissens.»
Diethelm glaubt allerdings, dass es kein Zufall ist, dass eine Figur wie der islamkritische, populistische Politiker Geert Wilders in Holland, einem Land mit stark privatisierter Religion, so viel Zulauf hat. «Es muss darum auch solche geben, die Gesamtverantwortung übernehmen und darauf hinweisen, an welchem Menschenbild sie Gut und Böse, Richtig und Falsch messen.»
Für Kunz zeigt sich am immer wichtigeren Bereich Palliative Care, dass das christliche Menschenbild oder Spiritualität überhaupt rehabilitiert werden muss: «Es geht am Menschen vorbei, wenn man heute alles auf die Psychotherapieschiene reduziert und so tut, als seien die letzten Fragen keine religiösen Fragen. Im ganzen Gesundheits- und Altersbereich haben wir tendenziell diese Engführung. Gerade in diesen anspruchsvollen Diskurs müssen wir wieder hineinkommen und klarmachen, dass rund ums Sterben religiöse Fragen zentral sind.»
Diethelm wünscht der Kirche, dass sie bei der künstlerisch produktiven Avantgarde mitreden könnte. Als Mittelschullehrer sähe er auch die Religionskunde (nicht Katechetik) gerne verstärkt in der Bildung verankert. In Zürich sei der Religionsunterricht an der Volksschule obligatorisch, nicht aber am Gymnasium: «Dass sich unser Schulsystem erlaubt, künftige Eliten an der Religionskunde vorbeigehen zu lassen, ist hanebüchen.»
Selbst die Theologen gefallen sich nicht selten darin, sich von den Hierarchien und Dogmen der Kirche abzugrenzen. Im immer wichtigeren Bereich Palliative Care zeigt sich, dass das christliche Menschenbild revitalisiert werden muss.

Fast zeitgleich ist am 15.06.2012 in der Reformierten Presse ist dieser Artikel erschienen


Glaube als intellektuelles Abenteuer



15.06.2012 00:00
Von: Matthias Zeindler
Matthias Zeindler




Es geschieht regelmässig, dass Menschen mir sagen, sie gingen nicht mehr in den Gottesdienst, denn was dort gepredigt werde, sein ihnen zu trivial. Verkündigung zu trivial? Jahrzehntelang wurde doch das Klischee von der zu «hohen» Predigt gepflegt, die über die Köpfe der Zuhörenden weggeht - und nun das.
Solche Aussagen sind mehr als ein Ausdruck der unter dem Thema «Milieuverengung» diskutierten Tatsache, dass die Kirchen die gesellschaftlichen Eliten - und dar-
unter auch die Intellektuellen - nicht mehr erreichen. Diejenigen, welche den Gottesdienst als tri-vial empfinden, vermissen höchstwahrscheinlich nicht Vorträge auf akademischem Niveau. Gemeint ist meist auch nicht das Triviale als ästhetische Kategorie, im Gegensatz zur Hochkultur. Vermisst wird nicht Elitäres - sondern das, was man anderswo nicht zu hören bekommt.
Das Problem liegt beim Inhalt, nicht in der Form: Trivial nennt man das, was man als Wieder-
holung von längst Bekanntem empfindet, das Triviale ist das Redundante. Wer Verkündigung als trivial erlebt, empfindet die Predigt als objektiv überflüssig - als eine Veranstaltung ohne identifizierbaren «Mehrwert».
Theologie der Trivialität
Eine als trivial empfundene Verkündigung muss zuallererst theologisch zu denken geben. Wer in Christus ist, so Paulus, ist «eine neue Schöpfung», darum anderswo seine Aufforderung, sich nicht «ins Schema dieser Welt» zu fügen. Das Evangelium ist das Neue in einem fundamentalen Sinne. In der Sünde begegnet uns das Immergleiche, Langweilige, bestenfalls oberflächlich Neue der nicht enden wollenden Gefangenschaft in unserer menschlichen Selbstbezogenheit. Wogegen uns im Evangelium die frohe Botschaft erreicht, dass Gott nahe und deshalb unsere Selbstbezüglichkeit nicht mehr nötig ist. Dieses Evangelium tröstet und nimmt uns in Anspruch, es ist aber auch mehr als das, nämlich überraschend, spannend, faszinierend und damit das Gegenteil von trivial. Eine langweilige Verkündigung kann deshalb, theologisch gesehen, nur ein hölzernes Eisen sein.
Zu einer Verkündigung, die als trivial empfunden wird, passt, dass in unserer Gesellschaft vom christlichen Glauben kaum je als intellektueller Herausforderung gesprochen wird. Die sozialen und seelsorgerlichen Verdienste der Kirchen sind allgemein anerkannt, und das mit Recht. Aber das sollte den Christen nicht genügen.
Die Präsenz der Kirchen in der Gesellschaft darf sich nicht auf seelsorgerliche Begleitung und ethische Stellungnahmen beschränken. Sie haben daneben auch neue, ungewohnte Sichtweisen in die öffentlichen Debatten einzubringen. Nur wo dies geschieht, kann sich die Ahnung einstellen, dass die Kirche für eine Botschaft steht, welche wir uns nicht selbst zu sagen vermögen. Man dürfte ruhig etwas mehr davon spüren, dass christlicher Glaube auch ein - intellektuelles Abenteuer ist!
Matthias Zeindler ist Leiter Bereich Theo-
logie der Reformierten Kirchen Bern-
Jura-Solothurn und Titularprofessor für Systematische Theologie an der Theo-
logischen Fakultät Bern.

Leserbrief auf einen Idea Artikel zu diesem Thema


Leserbrief an idea-spectrum zum Artikel: "INTELLEKTUELLE ELITE FÜHLT SICH NICHT VERSTANDEN"

von Jim Bühler, Samstag, 7. Juli 2012 um 18:21 ·
Die Elite fühlt sich in unseren Gottesdiensten nicht verstanden, weil unsere Gottesdienste denkfeindlich gestaltet sind. Unternehmer fühlen sich unverstanden, weil wir Gemeindeleiter grundsätzlich nicht mit ihnen umzugehen wissen. Männer fühlen sich in unseren Gottesdiensten nicht zu Hause, weil die Dekos und das Liedgut zu feminin sind. Die Hausfrau und Mutter fühlt sich in unseren Gottesdiensten nicht verstanden, weil ihr Alltag um Windeln, Wäscheberge und Kindergeschrei in unseren Predigten nicht vorkommt. Für den Jugendlichen sprechen wir zu abgehoben und intellektuell.
Natürlich müssen wir als Gemeinden selbstkritisch unsere Arbeit beobachten. Jede Gemeinde fährt ihren Stil und pflegt ihre Kultur, die irgendwie gewachsen ist. Und diese gilt es auch kritisch zu hinterfragen.
Nur, was hilft solche Pauschal-Kirchenschelte? Wollen Sie Gemeindefrustrierte in ihrem Frust bestätigen und bestärken? Hilft das? Wollen Sie stark herausgeforderte Gemeindeleiter entmutigen? Hilft das? Was will Idea-Spectrum mit solchen Artikeln? Ich schätze die Arbeit der VBG sehr. Und ich bin überzeugt, dass es solche Gefässe und Thinktanks braucht in Ergänzung zu den Kirchen und Gemeinden. Dabei wünsche ich mir eine Partnerschaft die von Wertschätzung und Respekt geprägt ist. Aussagen wie, Freikirchen seien denkfeindlich, scheinen weder reflektiert, noch differenziert  und wenig intelligent.

Wer, wenn nicht die intellektuelle Elite kann sich einbringen, damit unsere Verkündigung nicht zu simplifiziert daher kommt? Wer, wenn nicht die intellektuelle Elite kann uns dabei helfen, den vermeintlichen Widerspruch zwischen Glaube und Denken aufzulösen? Wer, wenn nicht die intellektuelle Elite hat den Zugang zur intellektuellen Elite mit dem Evangelium? Ich lade die intellektuelle Elite herzlich ein, sich einzubringen! Ich persönlich würde mir den Austausch und die Reflektion und auch Feedback von intelligenten Denkern nur wünschen.
Doch ich glaube nicht, dass diese Art von Pauschal-Kirchenschelte kirchliches Leben fördert. Diesbezüglich bitte ich die Redaktion von idea-spectrum Ihre Arbeit nicht nur nach journalistischen Betrachtungsweisen vorzunehmen, sondern auch den Impact auf den Gemeindebau zu betrachten. Überhaupt frage ich mich, sind Sie da nicht einem überholten Kirchenverständnis aufgesessen? Ist Gemeinde eine Bedürfnisanstalt?

Jim Bühler
Pastor
Chrischona-Gemeinde Steckborn


Kirche, Matura, Uni, Universität, Intellektuell

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